Die Wanderarbeiter aus Ostwestfalen & Lippe

Vom Kötter zum Weber zum Wanderarbeiter

Fürstliche Residenzschloss Lippe
Fürstliche Residenzschloss Lippe

Da die Einkünfteverzeichnisse von Klöstern und weltlichen Grundherrschaften regelmäßig Leinen als Abgaben der Bauern aufweisen, kann vermutet werden, dass seit dem 9. Jahrhundert die TextilhersteIlung in ganz Ostwestfalen & Lippe weit verbreitet war.

Das Fürstentum Lippe gehörte zur Kernzone der ländlichen Leinenindustrie in Norddeutschland. Schon im 13. Jahrhundert beginnen die Spuren gewerblicher, für den Markt arbeitender Kräfte. Als Füllarbeit ist auf jedem Bauernhof, seit dem 16. Jahrhundert eine andauernde und starke Produktion nachweisbar.

Die lippischen Garnspinner und Leinenweber

Straßenkötter
Straßenkötter

Unter sozialer Perspektive war die Leinenindustrie Hausgewerbe: Kleine .Gewerbetreibende produzierten mit ihren Hausangehörigen für den Markt. Noch stärker ─ und gleichrangiger ─ als im bäuerlichen und handwerkliche Haushalt waren Frauen und Kinder in die Produktion einbezogen.

Die Familien wohnten zumeist zur Miete oder in Einliegerkotten auf Bauernhöfen; manchmal bewohnten sie ein Altenteilerhaus, das gerade unbesetzt war.

1788 wurden 3.235 Spinner erfasst. Weitgehend auf der Basis des heimischen Flachses erstellten sie das für die Leinenweberei erforderliche Garn. Die Tätigkeit des Spinnens erforderte nur einen geringen Geldaufwand. Ein Spinnrad (24 Mgr. bis 2 Rtl. Wert) und ein Haspel (12 Mgr. Wert) gehörten zur Aussteuer jeder Lipperin. Meiertöchter erhielten sie als Brautschatz und zumeist fehlten auf dem Brautwagen auch Racke, Schwinge, Ribbeeisen, Hechelstuhl und Hechel nicht. Die meisten Spinner standen in starker Abhängigkeit zu den Garnhändlern.

„Der Weber“ im „Ständebuch“ des Jost Ammann (1568)
„Der Weber“ im „Ständebuch“ des Jost Ammann (1568)

1749 schätzt die Verwaltung ca.1.450 Webstühle in Lippe, von denen 1.050 für den Verkauf arbeiteten, die übrigen für den Eigenbedarf. 1788 schätzt man ca. 1.922 und 1792 ca. 2.606 Webstühle. Da für jeden Webstuhl eine Webstuhlabgabe erhoben wurde, bestand ein Interesse der Steuerpflichtigen, die Obrigkeit im unklaren über die wirklichen Zahlen zu lassen. Webstühle, die momentan nicht im Betrieb waren, baute man aus Gründen der Platzersparnis ab und lagerte sie unter dem Stroh. So halfen auch Visitationen der lokalen Beamten kaum, falls sie nicht eine gründliche Hausdurchsuchung vornahmen. Die Zahlenwerte, mit der die Zentralverwaltung rechnete, müssen daher mit gewissen Abstrichen betrachtet werden. Jeder Stuhl beschäftigte ca. 5-10 Spinner.

Von den Landwebern hieß es, sie machten aus fremdem Garn ihre Leinwand, und überhaupt brandmarkte sie der Volksglaube als Diebe, obwohl sie den »Galgen«, gemeint war der Webstuhl, stets vor Augen hatten. Wenn sie das Schiffchen hin und her warfen, so war es mit »tausend Sakrament« beladen, denn kein Handwerk war angeblich mehr dem Fluchen und Schelten ergeben als dieses. Ihre Armseligkeit schildert ein Lied:

»Die Leineweber haben eine saubere Zunft, /

Mit Fasten halten sie Zusammenkunft; /

Die Leineweber schlachten alle Jahr zwei Schwein, /

Das eine ist gestohlen – das andere ist nicht sein. /

Die Leineweber nehmen keinen Jungen an, /

Der nicht sechs Wochen hungern kann.«

Der lippische Leinenhandel

Lippische Leinenweber mit ihren “Linnenpucken” auf dem Weg nach Lemgo. Ölgemälde von Ernst Meier-Niedermein, um 1900
Lippische Leinenweber mit ihren “Linnenpucken” auf dem Weg nach Lemgo. Ölgemälde von Ernst Meier-Niedermein, um 1900

Schon im 16. Jahrhundert entwickelt sich ein reger ländlicher Leinenhandel, der einerseits die Bauern mit Leinensamen versorgte und anderseits das fertig produzierte Leinen aufkaufte, dabei ist zwischen Garn- und Leinwandhandel zu unterscheiden.

Leinsamenhandel

Der Leinsamen wurde nur zu einem Teil im Lande selbst hergestellt, zum anderen Teil aber aus dem Baltikum bezogen, da seine Qualität höhere Erträge als die einheimische Saat versprach. Besonders beliebt war er aus der Gegenden um Riga, Narwa und Memel. Im 17. und 18.Jahrhundert importierte Lippe etwa die Hälfte des Leinsamens (1.883 t von 3.994 t Gesamtbedarf).

Der bremische Kaufmann Johann Kruse verknüpfte im frühen 18. Jahrhundert den Verkauf von Leinsaat mit dem Kauf von Leinwand und bot seinen Handelspartnern günstige Preise, wenn sie sich zu ihm in eine Art verlagsmäßiger Abhängigkeit begaben. Er verkaufte den Leinsamen an seine Stammkundschaft auf drei Weisen: gegen Geld, gegen Leinwand und auf Kredit. Gerade die Verknüpfung von Leinsaatversorgung und der Abnahme von Leinwand zwecks Export in die Neue Welt machte die Beziehungen der Bremer Kaufleute nach Westfalen lukrativ. Vielfach erschienen die Bremer Händler mit ihrer Ware auf den Märkten in Detmold oder Blomberg. Ein anderer Teil wurde über Bielefelder Händler importiert und gelangte von dort aus nach Lippe. 

Weserhafen Erder
Weserhafen Erder

Der Schiffstransport erfolgte in die Hansestädte Lübeck, Hamburg und Bremen. Letztere Stadt bildete wegen ihrer Nähe zum westfälischen Osnabrück und infolge ihrer Lage an der Weser die zentrale Drehscheibe für die Verteilung der Leinsaat nach Nordwestdeutschland.

Weser aufwärts gelangte die Fracht über Erder (Kalletal), - seit ca. 1700 lippische Zollstation - nach Lemgo;

Den lippischen Bauern war es erlaubt, Leinsaat gleich in den Hafenstädten zu bestellen, falls sie die Akzise an die Städte entrichteten. Die Städte protestierten gegen diese schwer kontrollierbare Regelung, konnten sich aber gegenüber der Regierung nicht durchsetzen.

Ländliche Garnhändler

Im 15. und 16. Jahrhundert wurde der lippische Garnhandel durch die Elberfelder Garnkaufleute weit gehend kontrolliert, ohne dass sich die einheimische Kaufmannschaft dagegen erfolgreich zu Wehr setzen konnten. Darüber hinaus kontrollierte die Herforder Kaufmannschaft den Garnhandel, auch wenn sie sich zeitweise in wirtschaftlichen Abhängigkeitsbeziehungen zur Wuppertaler Garnnahrung befand und daher auf die Preisentwicklung nur begrenzten Einfluss hatte. Lippische Weber, die ihre Ware nach Bielefeld brachten, kauften sich in der Grafschaft Ravensberg Garn, da besonders im Amt Oerlinghausen mehr Leinen gewebt als Garn gesponnen werden konnte.

Die Weber im Amt Sternberg bevorzugten Hannoveraner oder Braunschweiger Garn, das qualitativ hochwertiger war als das einheimische; die Sternberger Amtsverwaltung und der einheimische Handel beklagten diesen Zustand, ohne dass geeignete Maßnahmen ergriffen wurden.

1788 sind für das Lipperland 14 Garnhändler nachgewiesen die in Oerlinghausen (1), Salzuflen (1), Lemgo (3), im Amt Sternberg (1), im Amt Brake (6) und in der Vogtei Heiden (2) ansässig waren. Garn wurde nach Elberfed, Antwerpen und nach Übersee ausgeführt.

 Schwalenberg
Schwalenberg

Leinenhandel

Die lippische Leinenproduktion bestand zum überwiegenden Teil aus Grobleinen, das "Leggelinnen" oder "Löwendlinnen" genannt wurde. Die hauptsächlichen Gebiete für die Produktion waren das nordostlippische Bergland und das Blomberger Becken.

Im Schwalenberger Raum entstanden Leinenstrümpfe in Heimarbeit, ein Gewerbe, das auch in der benachbarten Grafschaft Pyrmont sowie in den Bistümern Paderborn und Corvey üblich war. Der Exportertrag der Strumpfherstellung wurde 1805 auf ca.12.000 Rtl. Beziffert.

Im Westen Lippes und dem angrenzenden Ravensberg wurde hochwertiges, feines Leinen produziert, dass über die Legge in Bielefeld verhandelt wurde. Die ortsansässige Kaufmannschaft übernahm die Endfertigung der Stücke, etwa das Bleichen, das Appretieren und das Stärken.

Neben den Kaufleuten als Großhändlern wuchs die Zahl der kleinen Leinenhändler, die ohne Kontor als "Packenträger" oder "Hopster" über Land zogen und Ware aufkauften. Viele von ihnen standen in festen Geschäftsbeziehungen zu Handelshäusern, die ihnen Kredite vorgeschossen hatten. Sie zahlten die Weber teilweise mit Geld, vielfach aber auch mit Fertigwaren (etwa Strümpfe, Mützen, Messer etc.) aus, was den zuständigen Behörden immer wieder Anlass zu Warnungen vor Betrugsversuchen gab.

Lippische Unternehmer mit Eigeninitiative wie der Oerlinghauser Kaufmann Tölke, der nach dem Siebenjährigen Krieg durch Garn- und Leinenhandel schnell zu Vermögen gelangte, blieben die Ausnahme.

Entstehung und Untergang des Export

Leopold IV. von Lippe
Leopold IV. von Lippe

Lippe wandelte sich im 18. Jahrhundert von einem Land mit breiter Subsistenzwirtschaft zu einem Exportland. Seine größten Einnahmen erhielt das Fürstentum durch die Ausfuhr von Leinenprodukten; das Leinengewerbe stellte rund 80% der Exportgüter. Dadurch begab sich das Land in die Abhängigkeit vom europäischen Markt, vor allem von Großbritannien und der Niederlande, die den größten Teil der Produktion abnahmen.

In Ermangelung von Bleichen und infolge des verbreiteten Misstrauens gegen eine Technisierung der Textilherstellung blieben dem Land die größeren Gewinnchancen verschlossen. Selbst im Vormärz, als nach 1836 der Zusammenbruch des lippischen Leinengewerbes stattfand, reagierte man seitens der Regierung mit Appellen, die Qualität des Flachses und der Leinenprodukte zu heben; Spinnschulen sollten die Krise bewältigen, die durch die technisierte Konkurrenz von Übersee ausgelöst worden war.

Die Anpassungsprozesse, die im benachbarten Ravensberg durch die preußische Wirtschaftsadministration eingeleitet worden waren ─ etwa die Anlage von leistungsfähigen Bleichen, die Förderung von Kaufmannsvereinigungen zur Vertriebssteigerung sowie die Bereitstellung von Kapital zur Mechanisierung ─, wurden in Lippe ignoriert.

„Hollandgänger“
„Hollandgänger“

Der Lippische Fürst verbot aus Angst vor fremden Einflüssen und vor dem Verlust der heimgewerblichen Arbeitsplätze sogar die Ansiedlung von Textilfabriken. Stattdessen lief stets ein großer Teil des lippischen Tuchs durch Ravensberg, um dort gebleicht und mit Gewinn verkauft zu werden. Die Leinenkrise traf Lippe daher ungleich stärker als den westlichen Nachbarn.

Zwischen 1836 und 1840 fiel die zur Lemgoer Legge gebrachte Zahl der Stücke Leinen um 75%. Die Krise des lippischen Leinengewerbes wirkte sich in erster Linie auf die grundbesitzlose Bevölkerung aus. (Die Zahl der Einliegerfamilien hatte sich von 1784 bis 1850 von 3500 auf 8045 erhöht). Für diese Familien bedeutete der Niedergang des Leinengewerbes den nahezu vollständigen Verlust ihrer Existenzgrundlage. Eine zusätzliche Belastung brachte die 1808 vollzogene Gemeinheitsteilung mit sich. „Gemeinheiten“ waren Flächen, v.a. Wiesen, die im Besitz der Gemeinde waren und von allen Gemeindemitgliedern genutzt werden konnten. Die Mitbenutzung der Gemeinweiden war für viele Einlieger eine notwendige Unterstützung ihrer ohnehin schon kärglichen Existenz gewesen. Durch die Privatisierung der Gemeinheiten wurde ihnen auch diese Unterhaltsmöglichkeit entzogen. Diese doppelte Einbuße von Erwerbsquellen verbunden mit Missernten in den Jahren 1847/1848 führte zu Massenarmut. Den so in Existenznot geratenen unterbäuerlichen Schichten bot sich die Auswanderung nach Amerika, die Saisonauswanderung, das sogenannte „Ziegel- oder Frieslandgehen“ sowie die Binnenwanderung.